Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias' Werk in interdisziplinärer Perspektive

Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias' Werk in interdisziplinärer Perspektive

Organisatoren
Dieter R. Bauer (Stuttgart) / Prof. Dr. Claudia Opitz (Basel)
Ort
Stuttgart - Hohenheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.05.2003 - 03.05.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Sophie Ruppel, Universität Basel

Die im Suhrkamp Verlag erschienene Neuausgabe der "Höfischen Gesellschaft" - Norbert Elias' vor 70 Jahren eingereichte, aber damals unpubliziert gebliebene Habillitationsschrift - stellte den Anlass der von Claudia Opitz und Dieter Bauer geleiteten Tagung "Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess" dar.

Explizit auf ein interdisziplinäres Gespräch ausgerichtet, wies das Tagungsprogramm eine grosse Vielfalt an Vorträgen auf, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft zu Wort kamen. Allein die Möglichkeit, eine derartige Bandbreite von Disziplinen und WissenschaftlerInnen unter einem Thema zusammenzuführen, nahm bereits ein Ergebnis der Tagung vorweg: die Diversität der Anschlussmöglichkeiten an Elias spiegelt sowohl die Vielfältigkeit seines Werkes wie auch seinen (spät erreichten) Status als ‚Klassiker' in den Geistes- und Kulturwissenschaften wider.

Den benachbarten Fachrichtungen jeweils einen Einblick in die Rezeption des Elias'schen Werkes (und insbesondere der "Höfischen Gesellschaft") in der jeweils eigenen Disziplin zu geben war dabei den Vortragenden ebenso ein Anliegen wie die übergreifende Frage, welche Anknüpfungspunkte heute in Bezug auf sein Werk vorhanden sind und welches Potential es im Kontext der Kulturwissenschaften aufweist. Dass die Rezeption seiner Werke keineswegs zum Abschluss gekommen ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass innerhalb des im Suhrkamp-Verlag auf 20 Bände angelegten Editionsprojektes der Gesammelten Schriften von Elias auch erstmalig Texte zugänglich werden, die bisher entweder gar nicht oder nur in englischer Sprache vorlagen.

Die Tagung war in drei grössere thematische Abschnitte gegliedert; einen einführenden biografischen, einen zweiten evaluierenden und einen dritten Teil, der den Perspektiven der "Höfischen Gesellschaft" im Kontext der Kulturwissenschaften gewidmet war.

Zunächst, im biografischen Teil, warfen Reinhard Blomert (Berlin) und Claudia Opitz (Basel) Fragen nach unbewussten und bewussten Einflüssen auf die "Höfische Gesellschaft" auf. Während Reinhard Blomert versuchte, in Elias' Jugendzeit Momente ausfindig zu machen, die Anstösse für sein späteres Werk darstellen könnten, befasste sich Claudia Opitz mit Elias' Zeit in Frankfurt. Ganz im Sinne Elias' eigener Interdependenztheorie versuchte sie das Umfeld aufzuzeigen, in dem Elias' Denken sich - in Auseinandersetzung - formte. Im Gegensatz zu Elias' Selbstdarstellung als schulenloser originärer Denker sind eindeutig Einwirkungen der Umgebung auszumachen - z.B. des Soziologen Franz Oppenheimer, dessen Forschungen zur Entstehung von Staatlichkeit in Frankfurt in den 20er Jahren stark diskutiert wurden oder auch der Schriften Max Webers zur Herrschaftssoziologie.

Während die Diskussionen in diesem ersten biographischen Teil sich mehr oder weniger einhellig um Fragen des Umfelds von Elias drehten, brach sich im zweiten Tagungsabschnitt - überschrieben mit dem Titel "Kritische Würdigung" - der Dissens Bahn. Während Eric Dunning (Leicester) aus soziologischer Perspektive die Leistungen Elias' in seinem Denken, das radikal die Relationalität des Menschen, seine Ausgerichtetheit auf andere und die Prozesshaftigkeit alles menschlichen Daseins in den Blick nehme, hervorhob, Renate Kroll (Siegen) aus romanistischer Sicht gerade auch in Bezug auf frauen- und geschlechtergeschichtliche Fragen die Möglichkeit der Arbeit mit Elias' Figurationsmodell betonte, meldeten sich aus der Geschichtswissenschaft eher skeptische Stimmen zu Wort. So zeigte Ronald Asch (Freiburg) Defizite der Elias'schen Darstellung der höfischen Gesellschaft auf und verwies z.B. auf von Elias nicht beachtete Faktoren wie die fortschreitende Urbanisierung, den Einfluss der Kirche und den Stellenwert der Militarisierung. Zugleich zeigte er auf, inwiefern ‚neue Manieren am Hof' nicht ausschliesslich Pazifizierungsschritte darstellten, wie Elias es sah, sondern vielmehr hier auch neue Formen der Gewalt, wie z.B. das Duell, generiert wurden. Ebenso sah Wolfgang Schmale (Wien) Elias' Erklärung des Gewaltausbruchs in der Französischen Revolution zwar als weiterhin valablen Beitrag zur Revolutionsforschung an, sah aber heutige Forschungen, die im wesentlichen multikausaler argumentieren oder auch von neuen, z.B. semiotischen Ansätzen ausgehen, als eher geeignet an, die komplexen Vorgänge zu erklären. Auch Jeroen Duindam (Utrecht), der in seinem Beitrag das alltägliche Funktionieren von Höfen in ihrem personellen Aufbau an zwei konkreten Beispielen (dem Habsburger Hof in Wien und dem französischen Bourbonenhof) darstellte, unterstrich damit u.a. die Notwendigkeit, Elias Bild vom Hof zu ergänzen und in vielen Punkten auch zu revidieren. Die Diskussionen über diese eher skeptischen Beiträge drehten sich deutlich um die Frage, ob diese Relativierungen nun Elias' Werk hinfällig machen und für obsolet erklären. Während die eine Seite hier keine weiteren Anschlussmöglichkeiten sah, wurde dies von der Gegenseite durchaus anders bewertet. Tatsächlich aber zeigte sich hier möglicherweise nur einmal mehr jenes Spannungsfeld zwischen geschichtswissenschaftlicher Denkweise einerseits, die darauf ausgerichtet ist, konkrete Strukturen und Situationen differenziert wie möglich nachzuzeichnen und soziologischen Sichtweisen andererseits, die in Elias' Text eine weiterhin gültige Modellstudie über das Zusammenleben von Menschen in Hofgesellschaften sehen. Das Anzweifeln der Gültigkeit von Elias' Aussagen in puncto historiographischer Adäquatheit stand so gegen die Akzeptanz und Würdigung seiner Vorstellung des Funktionierens von Machtbalancen. Hier vermischten sich in der Diskussion eindeutig die Ebenen der Fragen, die an Elias' Werk gestellt werden (können) mit solchen der disziplinären Identität.

Der dritte Tagungsteil ‚Kulturwissenschaftliche Perspektiven' schien zunächst eher der skeptischen Sichtweise Tribut zu zollen. Zwar attestierte Jutta Held aus kunstgeschichtlicher Perspektive Elias' Arbeiten einen wichtigen Einfluss auf die Neuausrichtung der Kunstgeschichte der 80er Jahre, wies aber sodann am Beispiel seines Kapitels über höfische Wohnformen u.a. auch auf die Homogenisierungstendenz in seinem Werk hin und bemängelte das Ausblenden der Einflüsse aus den Unterschichten - worauf erneut die Diskussion um die Frage ausbrach, inwieweit durch diese Auslassungen sein Werk heute als ‚nicht anschlussfähig' klassifiziert werden kann. Barbara Welzel (Dortmund) und Birgit Franke (Münster) bestätigten zwar in ihrem Beitrag die heutige geringe Bedeutung von Elias in der Kunstgeschichte, boten aber in einer reich bebilderten Geschichte der Kunst und Kultur an den burgundischen Höfen nichtsdestotrotz ein eindrückliches Beispiel für die - nicht zuletzt von Elias geforderte - Interdisziplinarität und zeigten auf, wie vielfältig und fruchtbar die gegenseitigen Anschlüsse der Fächer Geschichte und Kunstgeschichte sein können.

Mit den Vorträgen des letzten Tages trat dann nochmals die auch heute gewinnbringende Auseinandersetzung mit Elias in den Vordergrund. Der Soziologe Johan Goudsblom (Amsterdam) warf die generelle Frage nach Hofgesellschaften in der Weltgeschichte auf, die er als durch bestimmte Merkmale von dezentralisierten agrarischen Gesellschaften unterschieden definierte. Er eröffnete so einen Horizont dieses Elias'schen Werks, der - wohl aufgrund der vorwiegend historiographischen Rezeption - noch völlig unausgeschöpft ist und sein Potential möglicherweise auch für die Ethnologie eröffnen könnte. Sophie Ruppel (Basel), die der Frage der ‚Anwendbarkeit' von Elias' Figurationsmodell nachging, legte dar, wie dessen Interdependenzmodell den Blick für Erklärungsmöglichkeiten konkreter Handlungsabläufe im Adel im 17. Jahrhundert öffnen kann und Eckart Schörle (Erfurt) erläuterte anhand eines im Nachlass von Elias befindlichen ‚Essays on Laughter' die erstaunliche Aktualität seiner Denkansätze. Beide sahen ein hohes und unausgeschöpftes Potential in Elias' Werk für weitere (historische) Forschungen. Auch der Abschlussvortrag von Stephen Mennell (Dublin), der die französische höfische Gesellschaft für heutige Züge der französischen Küche verantwortlich machte, baute fraglos auf Elias'schen Themen und Fragestellungen auf.

Zweifellos - der weitgespannte Bogen der Vorträge aus den verschiedensten Disziplinen, der die unterschiedlichsten Teilnehmerinnen und Teilnehmer vereinte, bedingte einerseits Verständigungsschwierigkeiten, andererseits zeigte sich aber hierdurch eine spannende Vielfalt. Die Person und das Werk von Norbert Elias sind noch keineswegs ad acta gelegt - Anschlüsse daran sind in jeder Richtung denkbar; sei es in affirmativer Haltung oder in Abgrenzung von ihm.

(Eine Publikation der Beiträge ist geplant.)